Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Prof. Hans Zirker
 

Muslim-Markt
interviewt Prof. Dr. Hans Zirker

10.10.2005

Prof. Dr. Hans Zirker (Jahrgang 1935) studierte 1954–1962 Philosophie, katholische Theologie, Semitistik (vor allem Arabisch) und Germanistik an den Universitäten von Mainz und München und wurde zwei Jahre später zum Dr. theol. promoviert. In dieser Zeit absolvierte er auch sein Erstes und Zweites Staatsexamen für die Fächer Katholische Religionslehre, Deutsch, Philosophie und Hebräisch und lehrte anschließend bis 1971 im gymnasialen Schuldienst. Von 1971–1974 war er Fachleiter am Institut für Lehrerfort- und -weiterbildung Mainz und anschließend bis 1980 Professor für Katholische Theologie und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Rheinland. In der Zeit von 1980–1993 war er Universitätsprofessor für Katholische Theologie mit dem Schwerpunkt Fundamentaltheologie in Duisburg und dann bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2000 in Essen. Seine vorrangigen Arbeitsgebiete sind bis heute theologische Hermeneutik, Religionskritik und Islam. Darüber hat er zahlreiche Bücher und Aufsätze veröffentlicht (s.u.). Prof. Zirker ist verheiratet, hat vier Kinder und lebt in Kaarst.

MM: Sehr geehrter Herr Prof. Zirker, ein Schwerpunkt Ihrer Arbeit ist der Heilige Qur'an. So haben Sie u.a. eine Transkription des gesamten Buches für deutschsprachige Leser erstellt. Was war die Motivation dazu?

Zirker: Diese eine Veröffentlichung darf man nicht isoliert sehen. Sie ist ein beiläufiges Ergebnis meiner Beschäftigung mit dem Islam. Dazu hat mich schon von meinen Studienzeiten her die Erfahrung angeregt, dass diese Religion in der katholischen wie der evangelischen Theologie, zumindest im deutschen Sprachraum, wenig beachtet und kaum ernst genommen wurde. Daran änderte sich auch nach der beachtlichen Würdigung des muslimischen Glaubens durch das Zweite Vatikanische Konzil zunächst nur wenig. Weithin beschränkte man sich auf religionswissenschaftliche Kenntnisnahme. Theologie aber muss über die vorwiegend historischen und literarischen Interessen der Religionswissenschaft hinaus danach fragen, wie man sich über religiösen Glauben, den eigenen und den fremden, verständigen kann. Dabei genügt es nicht festzustellen, worin wir Gemeinsames und worin Unterschiede sehen. Die schwierigere Überlegung heißt: Was bedeutet es für uns, dass andere Menschen bejahen, was uns selbst nicht gleicherweise überzeugt; dass andere manches für unerheblich halten oder gar bestreiten, was uns wichtig ist? Wie kommen wir damit zurecht, dass sich die Differenzen nicht einfach auf Unkenntnis und Missverständnisse, gar Starrsinn zurückführen lassen, sondern auch zwischen gutwilligen, aufgeschlossenen und kundigen Menschen bestehen? Können wir dennoch voneinander lernen – vielleicht gerade wenn wir die wechselseitigen Verlegenheiten erkennen? Vor solche Fragen sehe ich Christen wie Muslime gestellt. Ich gehe dem vor allem im Blick auf das Verständnis des Koran nach, der sich ja ausdrücklich auch an Christen richtet. Um ihn in seinem Inhalt, aber auch in der Gestalt seiner Rede und in der Verknüpfung seiner Themen möglichst sorgfältig wahrzunehmen, habe ich ihn mir eigens übersetzt (zunächst nicht in der Absicht, diese Übersetzung zu veröffentlichen) und dabei auch eine Umschrift angefertigt, die bei Textuntersuchungen am Computer hilfreich ist.

MM: Bereits vor über zehn Jahren haben Sie eine umfassende Schrift zur Herausforderung Islam in der hiesigen Gesellschaft veröffentlicht. Wurde die Arbeit damals beachtet? Was denken Sie, wenn Sie die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung diesbezüglich in Deutschland beobachten?

Zirker: Wissenschaftliche Arbeiten, die sich mit komplexen Verhältnissen befassen und sich um differenzierte Urteile bemühen müssen, finden ihre Beachtung zumeist nicht in großer Öffentlichkeit. Doch habe ich bei meinem Bemühen, die verbreiteten plakativen Vorstellungen vom Islam abzuwehren, viel Zuspruch und Interesse erfahren können.
Gewiss finden wir uns alle leichter mit der Realität zurecht, wenn wir sie nach einfachen Mustern begreifen, möglichst in Schwarz und Weiß, mit deutlichen Grenzen – da „wir“, dort „die anderen“ – und kompakten Blöcken – „der“ Islam und „die“ Muslime. Dieses Bedürfnis, genau und sicher zu wissen, woran wir sind, steigt umso mehr, als Angst aufkommt. Der 11. September war auch in dieser Hinsicht unheilvoll. Für viele hat er – so widersprüchlich dies scheint – klare Verhältnisse geschaffen, die Gegensätze, mit denen man schon immer gerechnet hat, aufgedeckt, die notwendigen Fronten gezogen. Die aggressiven Urteile, die dabei zu hören sind, sind nicht neu, werden jetzt aber lauter und selbstsicherer vorgetragen.
Zugleich setzt sich aber im Gegenzug auch die Einsicht durch, dass man so der Wirklichkeit nicht gerecht wird, vielmehr die Verhältnisse verschlimmert und Feindseligkeit schürt. Das Bedürfnis nach besseren Kenntnissen, nach gelassener Wahrnehmung und sachlichen Auseinandersetzungen wächst. Freilich gibt es dafür nicht den eindeutigen Sachverstand. Niemand kann sich, wenn es um den Islam geht, für „eigentlich zuständig“ erklären; eine solch exklusive Autorität gewähren weder Wissenschaft noch Religionszugehörigkeit und gläubige Lebenserfahrung. Entscheidend ist, ob es gelingt, die verschiedenen Sichtweisen in ihren jeweiligen Vorzügen und Grenzen aufeinander zu beziehen. Das Bemühen darum ist in unserer Gesellschaft trotz aller öffentlich spektakulären Gegenbeispiele vorhanden, in Verbänden und Kirchen, an Schulen, Universitäten und Akademien, bei tüchtigen Journalisten und zahllosen aufgeschlossenen Menschen. Ich habe keinen Grund, die gegenwärtige Situation nur negativ zu sehen.
Ein positives Moment von grundlegender politischer Bedeutung ist die in der Neuzeit nach leidvollen Erfahrungen gewonnene Einsicht, dass keine einzelne Religion oder Weltanschauung in der Lage ist und beanspruchen kann, der gesamten Gesellschaft das geistige Fundament und die rechtliche Ordnung vorzugeben, dass vielmehr unser Zusammenleben dann am ehesten friedfertig sein kann, wenn wir uns auf ein unverzichtbares Minimum von Spielregeln und Werten verpflichten – in Grundrechten kodifiziert – und alles darüber Hinausgehende den Entscheidungen des politischen Kräftespiels und der individuellen Lebensgestaltung anheim stellen. Dies schließt Religionsfreiheit als individuelles Selbstbestimmungsrecht ein.
Faktisch hat dies bei uns jedoch auch dazu geführt, dass Religion weitgehend ins Private zurückgezogen oder gar verflüchtigt erscheint. Dementsprechend wird die bei uns gültige „Trennung von Staat und Kirche“ (im Blick auf den Islam hieße dies etwa: „von staatlicher Rechtsordnung und religiösen Weisungen“) häufig missverstanden als „Trennung von Religion und Politik“ und so vor allem vom Islam gefordert. Doch diese Forderung muss mit dem Widerspruch nicht nur von muslimischer, sondern auch von christlicher Seite rechnen; denn sie verlangt eine Selbstamputation der Religionen. Das Gegenteil sollte der Fall sein: ein politisches Handeln der Religionsgemeinschaften und ihrer Mitglieder zum Wohl des Gemeinwesens unter Wahrung der genannten Spielregeln, die auf eine gleichberechtigte Beteiligung aller ausgerichtet sind. Die Verantwortung dafür, dass dies auch im Blick auf Musliminnen und Muslime gelingt, kann nicht allein diesen aufgelastet werden.

MM: Nun könnten sich Christen und Muslime beispielsweise auf Basis der Zehn Gebote einigen. Fakt ist aber, dass die gesellschaftliche Entwicklung sich so ziemlich von allen Zehn Geboten zunehmend weg entfernt. Sind hier die Unterschiede zwischen praktizierenden Muslimen und Christen nicht viel geringer als der Unterschied zur allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung?

Zirker: In der Tat stimmen Koran und Bibel im Blick auf die Zehn Gebote weitgehend überein. In der Christentumsgeschichte, in der religiösen Bildung und Erziehung, spielten diese von Anfang an eine große Rolle. Aber es ist auch bezeichnend, dass sie dabei wechselnde Deutungen und Anwendungen erfahren haben. So hat z.B. das Gebot der Sabbatruhe bald nicht mehr seine ursprüngliche Geltung behalten, und das Verbot der Anfertigung von Gottesbildern wurde nach heftigen Auseinandersetzungen mit theologischen Argumenten außer Kraft gesetzt. Dadurch sah man die Hochschätzung der Zehn Gebote insgesamt nicht geschmälert. Sie sollten Ihre Bedeutung und Kraft gerade unter den wechselnden religiösen Voraussetzungen und alltagsweltlichen Verhältnissen behalten.
Anders jedoch ist die heutige Situation, die Sie ansprechen. Unsere Gesellschaft ist zwar in vielem von christlicher Tradition geprägt, aber bei weitem nicht als ganze christlich. Ich kann deshalb auch nicht erwarten, dass die Zehn Gebote von allen als verbindlich, gar als Gottes Gebote anerkannt werden. Wie weit dies geschieht, ist also zunächst eine Sache der persönlichen Lebensgestaltung. Dabei kann sich selbstverständlich jeder unter uns, ob Jude, Muslim oder Christ, nach Kräften darum bemühen, dass die in den Zehn Geboten grundgelegten Orientierungen weiterhin geachtet bleiben. Die Möglichkeiten dazu sind freilich jeweils anders in der Familie, in Moschee, Kirche und Synagoge, in der Schule, hier vor allem im Religionsunterricht, recht anders gar im politischen Leben, vor allem in der staatlichen Gesetzgebung.
Ob wir dabei die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt so misslich sehen müssen, wie es Ihre Frage nahelegt, kann ich nicht entscheiden. Dabei müsste ich ja Vergleiche mit früheren Zeiten oder kulturell anderen Regionen unserer Welt ziehen. Das würde zu fragwürdigen Ergebnissen führen.
Sicher aber ist es gut, wenn sich Muslime, Christen und Juden immer wieder darauf besinnen, dass sie in ihren religiösen Weisungen einen grundlegend gleichen Bestand haben. Dies stärkt die wechselseitige Achtung und die gemeinsame moralische Verantwortung.

MM: Neben der gesellschaftlichen Herausforderung haben Sie auch eine theologische Herausforderung gesehen. Worin besteht sie?

Zirker: Ich beschränke mich auf zwei Gesichtspunkte, die mir am wichtigsten scheinen. Der erste betrifft vor allem das Christentum, der zweite auch den Islam.
1. Mit der Verkündigung des Koran tritt in der Weltgeschichte eine Religion auf, die von Anfang an die Christen (zusammen mit den Juden) wahrnimmt, sie von Gott her angesprochen sieht, im Blick auf ihren Ursprung anerkennt, letztlich aber auch schwerwiegend verurteilt. Auf christlicher Seite hat man dies traditionell als religiöse Verirrung abgetan. Doch übersah man dabei, wie viel religionsgeschichtliche Erfahrung dem zugrunde liegt; denn der Koran blickt auf die tiefen Zerwürfnisse von Juden und Christen und schließlich auch der verschiedenen christlichen Kirchen in ihren dogmatischen Streitigkeiten: „sie spalteten sich in ihrer Sache untereinander nach Schriften, jede Partei erfreut über das, was sie hat“ (23,53). Auf diese und ähnliche Weise hält der Koran den Christen mehrfach und nachdrücklich vor, dass es ihnen nicht gelungen ist, bei der theologischen Darlegung und verbindlichen Formulierung ihres Glaubens die kirchliche Gemeinschaft zu wahren. Auch wenn Christen diese in mancher Hinsicht unheilvolle Geschichte nicht rückgängig machen können, so haben sie den Einspruch des Koran doch ernst zu nehmen und theologisch zu verarbeiten.
2. Wie keine anderen Religionen dieser Welt erheben Islam und Christentum gleicherweise den Anspruch, dass sie die endgültige und unüberbietbare Offenbarung Gottes verkünden, zur Verpflichtung aller Menschen. Zugleich haben aber auch beide Religionen erfahren müssen, dass sie diesen doppelten Anspruch der Endgültigkeit und Universalität faktisch nicht einlösen können. Die Welt ist und bleibt auf unabsehbare Zukunft hin religiös plural und widersprüchlich. Dies theologisch zu verstehen, die Grenzen der eigenen Mitteilungs- und Überzeugungsfähigkeit realistisch anzunehmen und zu verarbeiten, ist für beide Religionen eine unausweichliche Aufgabe.

MM: Ist nicht die Pluralität eine Chance,  um sich selbst zu hinterfragen und dadurch weiterzuentwickeln? Beide Religionen haben immerhin gemeinsam die Erwartung auf die Rückkehr eines Erlösers, der das durch fehlbehaftete Menschen nicht verwirklichbare Ideal realisieren wird. Könnte nicht das gemeinsame Warten ein konstruktives Element der Kooperation sein, bei dem dann der Erlöser - sobald er erscheint - uns über die Unterschiede aufklären wird?

Zirker: Sie legen mir einen Gedanken nahe, der mir sehr wichtig scheint und dem ich gern nachgehe. Die christliche Theologie spricht vom „eschatologischen Vorbehalt“, d.h. dem Vorbehalt, dass all unsere Lebensverhältnisse nicht „das Letzte“ (eschaton) sind. All unsere Wünsche und Pläne, unser Handeln, besonders auch das politische, unsere Institutionen, ob Staat oder Kirche, schließlich auch die Religionen in ihrer jeweiligen geschichtlichen und kulturellen Gestalt können keine absolute Geltung beanspruchen und uns nicht endgültig zufrieden stellen. Ihr Gelingen steht nicht in unserer Hand.
Dieses Bewusstsein soll unser Bemühen nicht lähmen, sondern uns im Gegenteil bei all dem, was wir nur vorläufig und bruchstückhaft zustande bringen, darin bestärken, dass wir unseren Weg unbeirrt und zuversichtlich weitergehen – auf eine Zukunft hin, die wir uns in zahlreichen mächtigen Bildern vergegenwärtigen (darunter auch dem von der „Wiederkunft des Erlösers“), eine Zukunft aber, die all unsere Vorstellungen übersteigt; denn auch unsere Sprache mit ihren Begriffen und Bildern steht unter dem Vorbehalt, dass sie dem Endgültigen gegenüber unzulänglich ist.

MM: Wenn man die aktuellen Ereignisse in Deutschland betrachtet, so wundern sich viele Muslime - auch aus theologischer Sicht - insbesondere über die katholische Kirche, die beim so genannten Kopftuchkonflikt so schweigsam war, obwohl die Tracht einer Nonne sich in keiner Weise von der Kleidung einer Muslima unterscheidet. Um mehrere Fragen miteinander zu verbinden: Darf Fatima sich nicht bedecken, Maria aber schon, obwohl Maria in Fatima erschienen ist?

Zirker: Der „Kopftuchstreit“ ist auch für mich von Anfang an eine ärgerliche Sache. Dabei muss man freilich sehen – was häufig nicht beachtet wird -, dass es bei uns (anders als in Frankreich) um die Kleidung von Lehrerinnen an staatlichen Schulen geht (und nicht etwa auch um das Kopftuch von Schülerinnen). Zwar gibt es in unserer Gesellschaft vermutlich nicht wenige Menschen, die am liebsten „das islamische Kopftuch“ überhaupt aus der Öffentlichkeit verbannt sähen, doch diese Unvernunft hat keine politische Chance. Also darf sich bei uns – von bestimmten beruflichen Situationen abgesehen – selbstverständlich „Fatima“ wie „Maria“ kleiden. Aber damit sind wir beim strittigen Punkt.
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom September 2003 hätten die Bundesländer zwei alternative Entscheidungsmöglichkeiten gehabt:
1. Die Schulen sind ein besonders geeigneter Ort, um das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher religiöser und kultureller Traditionen verständnisvoll einzuüben. Dass eine muslimische Lehrerin die Kleidung trägt, zu der sie sich verpflichtet glaubt, sollte als eine Chance dazu angesehen werden.
Wenn Lehrerinnen oder Lehrer, welcher Religion auch immer, in den Verdacht geraten, dass sie den Voraussetzungen ihres Berufs nicht entsprechen, ist dies im Einzelfall zu prüfen, um dann eventuell die erforderlichen rechtlichen Konsequenzen zu ziehen.
Diese Entscheidung hätte mich im Blick auf die Aufgaben der Schule und unsere gesellschaftliche Situation am meisten überzeugt.
Oder 2. Alle Lehrerinnen und Lehrer an staatlichen Schulen sind Repräsentanten des Staates, der zur Neutralität gegenüber allen Religionen und Weltanschauungen verpflichtet ist. Dementsprechend sollten sie – ob Christen, Muslime, Juden oder Angehörige anderer Religionen – in ihrer staatlichen Funktion keine Symbole ihres Glaubens tragen. Wer unbedingt meint, auf seine Ordenstracht, sein Priestergewand, seine jüdische Kippa, sein muslimisches Kopftuch nicht verzichten zu können, kann nicht in den staatlichen Schuldienst. 
Diese Entscheidung wäre wenigstens konsequent. Außerdem bezöge sie sich auf Männer wie Frauen.
Die jetzigen Gesetze oder Gesetzesinitiativen einzelner Bundesländer (nicht aller), die sich im Grund nur gegen das Kopftuch muslimischer Frauen richten, erscheinen mir – aber ich bin kein Jurist – als nicht verfassungsgemäß. Ich warte gespannt auf ein erstes Verfahren beim Bundesverfassungsgericht.
Die deutschen Kirchen, evangelische und katholische, haben uneinheitlich reagiert. Die katholischen Bischöfe äußerten sich nicht mit einer Stimme. Das Gespür für die Bedeutung, die eine bestimmte Kleidung für Menschen anderer Religionen haben kann, ist offensichtlich auch hier unterschiedlich ausgeprägt. Ich verstehe, dass Muslime, vor allem muslimische Frauen enttäuscht sind.

MM: Letztendlich betrifft die Enttäuschung ja nicht das Kopftuch allein. In periodischen Abständen wiederholte Moscheerazzien, die Stigmatisierung der Muslime an sich, die journalistische Behandlung mancher Ereignisse (bis hin zu den "islamistischen Drogenhändlern", die man laut Journalisten vor wenigen Wochen in Hessen gefunden haben will), all das drängt praktizierende Muslime faktisch an den Rand der Gesellschaft. Dabei empfinden Muslime eine besondere Schweigsamkeit der "offiziellen" Christen. Ist das nur ein subjektiver aus Ihrer Sicht nicht gerechtfertigter Eindruck, oder könnte es nicht sein, dass Teile der Kirchen die Gelegenheit nutzen, um sich von einer ernst zu nehmenden Konkurrenz zu befreien?

Zirker: Ich nehme Ihre Erfahrungen sehr ernst und stelle selbst entsprechende diskriminierende Verhaltensweisen fest. Vor allem fällt mir auf, wie schnell die Medien bei Vorfällen, an denen Musliminnen und Muslime beteiligt sind, deren Religion mitnennen, während ich noch nie von „christlichen“ Drogenhändlern, gewaltbereiten „christlichen“ Schülern usw. gelesen habe.
Es bleibt wohl nichts anderes übrig, als solche Erscheinungen in unserer Gesellschaft anzuprangern, wo immer man dazu die Gelegenheit findet. Ich beteilige mich daran nach meinen Möglichkeiten.
Ihren Eindruck, dass sich die „offiziellen“ Christen, das heißt die kirchlichen Amtspersonen, in Schweigsamkeit hüllen, sich gar von Konkurrenzangst leiten lassen, kann ich allerdings nicht teilen. Im Gegenteil sehe ich ein vielfältiges Bemühen, das interreligiöse Verständnis zu fördern. Ich nenne drei recht unterschiedliche und letztlich zufällige Beispiele von katholischer Seite (auf evangelischer ließen sich ähnliche anführen): Die nur kurz zurückliegende Begegnung des Papstes mit Muslimen bei seinem Besuch in Köln wurde zu Recht als ein Zeichen der Verbundenheit von Christen und Muslimen beachtet. Die Ansprache des Papstes war deutlich von der Wertschätzung des islamischen Glaubens geprägt. – Das Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz verbreitet schon seit vielen Jahren und in überarbeiteten Auflagen eine Schrift „Christen und Muslime in Deutschland“, die ein verständnisvolles und kooperationsbereites Zusammenleben fördern soll. – Die katholischen Akademien haben in ihren Programmen regelmäßig Veranstaltungen zum Islam, bei denen häufig auch muslimische Referentinnen und Referenten beteiligt sind. Die Vorträge, Seminare und Gesprächskreise richten sich an eine interessierte Öffentlichkeit und finden guten Zuspruch. Eine besondere Initiative ist das „Theologische Forum Christentum – Islam“ der Katholischen Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Hier treffen sich Fachleute aus beiden Religionen, um spezifisch theologische Fragen zu erörtern. Die Beiträge und Ergebnisse werden publiziert.
Es ist freilich nicht zu leugnen, dass all diese Bemühungen nicht dieselbe Aufmerksamkeit erlangen, wie sensationell aufgemachte und auf Emotionalisierung angelegte Medienberichte. Doch hoffe ich, dass sie dennoch auf Dauer wirksamer sind.

MM: Was ist Ihre Empfehlung an das zukünftige Zusammenleben von Christen und Muslimen in diesem Land?

Zirker: Zunächst müssen wir uns wohl alle immer wieder ins Bewusstsein rufen, dass die Wirklichkeit vielfältiger ist als die Klischees, die sich uns aufdrängen, ja sogar als die Erfahrungen, die uns gerade bewegen. Je mehr wir die Gelegenheiten, einander zu begegnen, nutzen, einander in den jeweiligen Situationen und Lebensweisen wahrnehmen, aufeinander hören, vor allem wo es um Sorgen geht, uns aber auch das Erfreuliche mitteilen, desto eher werden wir für uns selbst und miteinander weiterkommen. Bezeichnenderweise sind Menschen, die keine Musliminnen und Muslime kennen, in ihren abwertenden und abwehrenden Urteilen über „den“ Islam oft am schroffsten.
Deshalb scheint es mir wichtig, dass wir dort, wo Christen und Muslime nebeneinander leben, wo Moscheen und Kirchen in den Straßen einander nahe sind, zu Nachbarschaften kommen. Dies erfordert nicht nur die grundsätzliche Bereitschaft, sondern auch praktische Phantasie. Es gibt Beispiele dafür, dass solche Nachbarschaften in gutem Geist gelingen; es gibt auch Enttäuschungen. Zur Entmutigung sollte es jedoch keinen Grund geben.

MM: Abschließende Frage: Auch das Christentum hat ja seinen Ursprung im Orient. Können Sie sich vorstellen, dass eines Tages der Islam in Deutschland und deutsche Muslime genau so selbstverständlich sind, wie heute Christen und Christentum in Deutschland?  

Zirker: Für nicht wenige Menschen ist es wie für mich jetzt schon selbstverständlich, dass in Deutschland nicht nur Christinnen und Christen, sondern auch Musliminnen und Muslime leben (aber auch noch viele, die weder das eine noch das andere sein wollen). Dann muss es auch ebenso selbstverständlich sein, dass es in unseren Städten Minaretts wie Kirchtürme gibt, in unseren Schulen islamischen Religionsunterricht, wenn er gewollt wird, in unseren Parlamenten muslimische Abgeordnete usw.
Eine andere Frage ist freilich, wie die Zukunft der Religionen überhaupt in unserer Gesellschaft sein wird. Das lässt sich nicht langfristig vorhersagen und hängt nicht allein von unseren Wünschen und Bestrebungen ab. Sicher bin ich nur, dass keine Religionsgemeinschaft unverändert durch die Zeit geht. Zum einen wirkt manches auf sie ein, das nicht in ihrer Verfügung steht; zum anderen aber sind Religionen auch Lerngemeinschaften; sie verändern sich angesichts der jeweiligen Erfordernisse ihrer Lebenswelt. Auf diese Perspektive dürfen sich Christen und Muslime zuversichtlich einlassen.

MM: Herr Prof. Zirker, wir danken für das Interview.

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