Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit D. Stommel-Hesseler
 

Muslim-Markt interviewt 
Doris Stommel-Hesseler, Mutter eines behinderten Kindes, Autorin und Verlegerin

26.6.2007

Doris Stommel-Hesseler wurde 1957 im Oberbergischen Kreis geboren. Sie ist Mutter von zwei Kindern und stolze Großmutter von zwei Enkelkindern. Ihr Sohn Björn kam 1981 als Drilling zehn Wochen zu früh zur Welt. Sauerstoffmangel führte zu seiner schweren körperlichen Behinderung. Seine beiden Geschwister starben in der ersten Lebenswoche.

In 2004 wurde der Doris Verlag von ihr ins Leben gerufen. Inzwischen schreibt sie Texte für verschiedene Zeitschriften. Diese befassen sich hauptsächlich, aber nicht ausschließlich mit dem Thema "Menschen und Behinderung". Gerade ist eine Anthologie zum Thema: "In mir ist Freude - an meinem wegweisenden Kind" entstanden. - Ein Werk, verfasst von Eltern, Geschwistern und Großeltern behinderter Kinder.

Frau Stommel-Hesseler ist verheiratet und als Buchhalterin in einer Einrichtung für behinderte Menschen beschäftigt.

MM: Sehr geehrte Frau Stommel-Hesseler, was bedeutet es, Mutter eines Menschen mit schwerer Behinderung zu sein?

Stommel-Hesseler: In erster Linie bedeutet es für mich, immer Kraft für zwei Menschen haben zu müssen. Die notwendige Kraft die ich benötige durfte ich aufteilen an Menschen die mir nahe stehen, an meinen Mann, meine Eltern, meine Geschwister, meine Tochter, Erzieherinnen, Lehrer und heute die Werkstatt für behinderte Menschen. Mutter eines Menschen mit einer schweren Behinderung zu sein bedeutet ein großes Maß an Verantwortung. Ich muss entscheiden: Welche Therapien und welche Operationen sind wirklich notwendig? Wie sichere ich die Zukunft meines Kindes, wenn ich nicht mehr kann?

MM: Die moderne Medizin ermöglicht es heute bereits im Mutterleib zu erkennen, ob ein Kind behindert sein wird oder nicht. Was raten Sie betroffenen Eltern? Wie sollen diese mit solch einer Information fertig werden?

Stommel-Hesseler : Ich rate allen werdenden Eltern, sich vor der Untersuchung Gedanken darüber zu machen, was sie tun werden, wenn die Diagnose lautet: "Ihr Kind wird behindert sein". Sie sollten sich fragen, ob sie diese Untersuchung wirklich wünschen oder ihr Kind so annehmen, wie es ihnen bei der Geburt geschenkt wird.

 MM: Und was erwarten Sie vom Gesetzgeber?

Stommel-Hesseler: Ich erwarte vom Gesetzgeber, dass er gemäß unserem Grundgesetz jedes menschliche Leben schützt und durch Verbot der Tötung auch den betroffenen Eltern diese unmenschliche Entscheidung zwischen dem eigenen Gewissen und dem Druck der Gesellschaft abnimmt, dass klar ist, dass jeder Mensch ein Recht auf Leben hat, sei er behindert oder nicht.

MM: Haben Sie auch schon einmal mit muslimischen behinderten Kindern zu tun gehabt?

Stommel-Hesseler: Wir hatten häufig mit muslimischen Kindern zu tun. In Björns Schulklasse waren ein muslimisches Mädchen und ein muslimischer Junge. Auch in einer Freizeitgruppe, die Björn besucht hat, waren muslimische Kinder.

MM: In wie weit spielt der Glaube an den Schöpfer allen Seins eine Rolle bei Ihren Entscheidungen und Empfehlungen?

Stommel-Hesseler: Der Glaube an Gott und meine Gebete haben mich stark und gelassen gemacht. Ich glaube ganz fest daran, dass Gott stets an meiner Seite ist und mir nur soviel zumutet, wie ich schaffen kann.

MM: Wie ging Ihre Tochter mit dem spastisch behinderten Bruder um?

Stommel-Hesseler: Ganz normal, als sei er ein gesundes Geschwisterkind.

MM: Wie sollte Ihrer Meinung nach die Gesellschaft mit Behinderung umgehen?

Stommel-Hesseler: Offen und unvoreingenommen. Dazu soll mein neues Buch beitragen.

MM: Frau Stommel-Hesseler, vielen Dank für das Interview.


Doris Stommel-Hesselers Kinder Björn und seine Schwester Sandra sowie ihre Enkel Elias und Joel durch die Tochter.

Links zum Thema

  • Doris Verlag

Vorwort zum Buch "In mir ist Freude - an meinem wegweisenden Kind"

Liebe Leserinnen und Leser,

dieses Buch möchte nicht urteilen, sondern zum Nachdenken anregen. Es soll anderen Menschen Mut machen, zu ihrem besonderen Kind zu stehen.

Die moderne Medizin ermöglicht es heute, während der Schwangerschaft klar zu definieren, ob ein Kind Auffälligkeiten aufweist, z.B. eine körperliche Beeinträchtigung, oder eine Chromosomen-Schädigung wie die der Trisomie21, früher auch Mongolismus genannt.

Die Diagnose, ein behindertes Kind zu erwarten, bringt viele werdende Eltern in einen schweren Gewissenskonflikt. Eine schnelle Entscheidung für oder gegen dieses ungeborene Leben wird seitens der Ärzteschaft gefordert. Ein Schwangerschaftsabbruch bis kurz vor dem Geburtstermin ist jedoch heute legal, wenn die Entscheidung gegen den behinderten Fötus ausfällt. Weil immer mehr spät abgetriebene Föten überlebten, blieben diese oftmals unversorgt, in der Hoffnung, dass sie von alleine sterben. Ein prominentes Beispiel ist der kleine Tim (das Oldenburger Baby), das 1997 seine eigene Abtreibung überlebte.

Zehn Stunden kämpfte er ums Überleben, bis ihn jemand versorgte. Heute geht man dazu über, behinderte Ungeborene bereits im Mutterleib zu töten. Das ungeborene (lebensunwerte) Leben wird mit einer Spritze eingeschläfert. Anschließend wird die Geburt eingeleitet und der getötete Fötus muss auf natürlichem Wege geboren werden.

Es ist erschreckend, wie selbstverständlich und legal heute, gut 60 Jahre nach Beendigung des Dritten Reiches, die Euthanasie wieder Einzug hält. In keiner Klinik oder Arztpraxis ist es erlaubt, ein gesundes Ungeborenes bis kurz vor der dem errechneten Geburtstermin zu töten. Euthanasie bedeutet "Vernichtung lebensunwerten Lebens" und genau das wird heute mit der Tötung von behinderten ungeborenen Kindern wieder praktiziert. Natürlich müssen die Eltern dieser Tötung zustimmen und ihren Entschluss begründen. Aber sind sie mit dieser Entscheidung nicht restlos überfordert? Wie stark muss man in einer solchen Situation sein, um hier nicht die falsche, überstürzte Entscheidung zu treffen?

Über eines sollten wir uns jedoch alle im Klaren sein:

Nicht behindert zu sein ist kein Verdienst, sondern ein Geschenk, das uns jederzeit genommen werden kann. Jeder Mensch kann infolge eines Unfalls oder einer Krankheit selbst zum behinderten Menschen werden. Möchten Sie dann als unwertes Leben gelten, oder trotz Ihrer Einschränkungen als wertvoller Mensch?

Haben Sie sich einmal Gedanken darüber gemacht, wie viele Arbeits- und Ausbildungsplätze von behinderten und alten Menschen abhängig sind?

Ich möchte Sie nun einladen, vielen wertvollen Menschen in diesem Buch zu begegnen. Die Texte und Fotos bedeuten allesamt wirkliches Leben, ein Leben mit Höhen und Tiefen, mit Mut, Kraft und einer ansteckenden Lebensfreude, die bestärkt.

Die Texte und Fotos dieses Buches machen deutlich:

„Das Leben mit einem behinderten Kind entwickelt sich nicht zwangsläufig zu einer Leidensgeschichte“.

Die Eltern, Geschwister und Großeltern, die uns ihre persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen mitteilen, erleben in erster Linie Freude mit ihrem behinderten Kind. Niemand möchte dieses wegweisende Kind missen. Wegweisend deshalb, weil der Weg ein anderer ist, als wenn man ein gesundes Kind geboren hat. Lesen Sie selbst. Wir haben gemeinsam die Hoffnung, dass wir mit dem gewährten Einblick in unser "die Norm auf den Kopf stellendes Leben" Unkenntnis in Verständnis wandeln.

Sollten Sie Kontakt zu den Autoren wünschen, setzen Sie sich bitte mit mir in Verbindung. Ich werde Ihren Wunsch entsprechend weiterleiten.

Doris Stommel-Hesseler

e-mail-Adresse: DoSto-He@t-online.de

Nachwort

Der Titel zu diesem Buch entstand abends während eines Entspannungsbades. Morgens hatte ich in einer Zeitschrift zufällig einen Artikel über Bioethik und den Hinweis auf eine entsprechende Internetseite gelesen. Hier wurde ich neugierig, klinkte mich ein, las gebannt die Dialoge, Hintergründe und Diskussionsreportagen. Fassungslos verharrte ich über Texten von der Forschung an Embryonen sowie vorgeburtlicher Diagnostik (zur Vermeidung von behinderten Kindern), der Frage: „Gibt es ein Recht auf ein gesundes Kind?“ Weiterhin die Frage: „Was würde mein behindertes Kind denken, wenn ich ihm sage, dass es heute bis zum sechsten Schwangerschaftsmonat straflos abgetrieben werden kann?“

Meine Gedanken wanderten zu meinem Sohn Björn: „Schwerstmehrfach behindert, Rollstuhlfahrer, hilflos.“

Björn ist ein Drilling. Er wurde 1981 zehn Wochen zu früh geboren. Sauerstoffmangel führte zu seiner schweren Behinderung. Seine Geschwister starben in der ersten Lebenswoche. Seine Behinderung war nicht vorhersehbar, seine Entwicklung konnte damals niemand voraussagen. Gedanken kreisten in meinem Kopf: „Was hätte ich getan, wenn diese Behinderung während der Schwangerschaft klar definiert worden wäre?“ Wozu mich entschlossen, hätte der Arzt mir zu einer Abtreibung geraten? Wie mich entschieden, wenn der Arzt zu mir gesagt hätte: „Frau Stommel, sie erwarten ein schwer behindertes Kind. Es wird zeitlebens auf sie angewiesen sein. Sie werden ihr Kind füttern, baden, auch wenn es schon erwachsen ist, voraussichtlich im Rollstuhl schieben, ihren Rücken ruinieren, ständig gebunden sein. Was hätte ich wohl getan? Ich kann es heute nicht sagen, aber eines weiß ich ganz gewiss: „Ein einziger vorausschauender Blick auf mein Kind, das ich später in den Armen hielt, würde genügt haben, um einer Abtreibung niemals zuzustimmen.“

Der Arzt konnte mir mit Gewissheit nicht sagen: „Sie erwarten ein schwerstmehrfach behindertes Kind, sie werden jedoch viel Freude mit ihm haben. Ihr Leben wird völlig anders verlaufen, wie sie es sich ausgemalt haben." (Natürlich hatte ich mir ein Leben mit gesunden, eineiigen Drillingen ausgemalt). Er hätte mir nicht sagen können: „Frau Stommel, sie werden auf Menschen treffen, die sie ohne ihren Sohn nie kennenlernen. Keine oberflächlichen Menschen, sondern solche, denen andere Werte wichtig sind. Die annehmen und lieben ohne Vorbehalt. Menschen, die in der gleichen Situation sind wie sie und andere, die freiwillig eine Wahlverwandtschaft mit ihnen und ihrem Kind eingehen. Ihr Kind ist ein ganz besonderes. Sein Lachen, seine Fröhlichkeit wird sie für alles entschädigen.“

Mir kam die Experten-Diskussionsrunde wieder in den Sinn. Mit Schaudern dachte ich daran, wer in Zukunft über Leben und Sterben unserer behinderten Kinder entscheidet. Vielleicht werden wir aus Kostengründen irgendwann gar nicht mehr gefragt, ob wir dieses, in uns wachsende, nicht perfekte Kind austragen wollen. Vielleicht bleibt uns gar nichts anderes mehr übrig, als uns von diesem Kind zu trennen, weil die notwendige medizinische Versorgung von der Krankenkasse zukünftig nicht mehr getragen wird.

Dann habe ich mich dazu entschieden, ein weiteres Buch zu schreiben. Der Titel: „Darf man ein Spiel spielen, dessen Regeln man nicht kennt?“ sprach mich auf der Internetseite besonders an. Dennoch habe ich mich entschlossen, diesem Buch eine andere Richtung zu geben: „Ich möchte die Freude an unseren behinderten, nicht perfekten, hilflosen und in erster Linie außergewöhnlich liebenswerten Kindern in den Mittelpunkt stellen.“ Ganz unvorstellbar für jeden Menschen, der vom Schicksal nicht mit einem solchen "gesegnet" wurde. Mit den Texten betroffener Eltern und Geschwister möchte ich diese Freude vorstellbar machen. Wir, die Eltern und Geschwister eines behinderten Kindes, mit Erfahrung in freudigen sowie leidvollen Situationen, möchten Eltern, die ein behindertes Kind erwarten oder bereits bekommen haben, stärken und ermutigen.

Wir haben gelernt, unser Kind so anzunehmen wie es uns geschenkt wurde. Es ist und bleibt, wenn wir seinem Leben eine Chance geben, ein Teil von uns!

Ein ganz besonderer Dank gilt meinen Mit-Autorinnen und Autoren, ohne deren Unterstützung dieses Buch nicht entstanden wäre und für dass mir entgegengebrachte Vertrauen. Jedes einzelne Schicksal hat mich zutiefst berührt.

Ihre Doris Stommel-Hesseler

 

Senden Sie e-Mails mit Fragen oder Kommentaren zu dieser Website an: info@muslim-markt.de 
Copyright © seit 1999 Muslim-Markt