Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Dr. Muneer Deeb
 

Muslim-Markt interviewt
Dr. med. Muneer Deeb, Oberarzt der Klinik für Allgemein,- Viszeral u. Thoraxchirurgie im Klinikum Kassel

29.4.2009

Dr. Muneer Deeb wurde 1968 im Flüchtlingslager Jabalia, dem größten Lager im Gaza-Streifen, als Sohn eines Einzelhändlers geboren. Sein Vater war als Kind 1948 mit seiner Familie aus dem Dorf Yavni, das nördlich der Stadt Ashdod in Palästina liegt, geflohen. Grund-, Mittel u. Sekundarschule besuchte Dr. Deeb ebenfalls in Jabalia. Ab seinem 10. Lebensjahr half er nach der Schule seinem Vater im Geschäft und führte es ab seinem 15. Lebensjahr selbständig. Da er fest entschlossen war, Medizin zu studieren, musste er nach dem Schulabschluss seine Heimat verlassen und ins Ausland gehen. Wie manch andere Palästinenser wählte er Deutschland, da dort damals keine Studiengebühren erhoben wurden und die Möglichkeit bestand neben dem Studium durch verschiedene Jobs Geld zu verdienen. So reiste er 1987 in die Bundesrepublik Deutschland. Nachdem Dr. Deeb die deutsche Sprache am Goethe-Institut und an der Universität Köln erlernt hatte, erhielt er einen Studienplatz für Humanmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover. Als die erste Intifada Ende 1987 ausbrach und das Geschäft seines Vaters nicht mehr lief, war Dr. Deeb finanziell auf sich selbst gestellt. Daher hat er damals verschiedene Jobs (in einer Bügelfabrik, in der Autoindustrie und in der Krankenpflege) angenommen. Nach erfolgreichem Abschluss des Medizinstudiums begann er seine Facharztausbildung in Damme bei Osnabrück. Vier Jahre später zog er nach Berlin und beendete dort am Krankenhaus seine Facharztausbildung in der Allgemeinchirurgie. Anschließend führte sein Weg nach Kassel, wo er die Schwerpunktausbildung Viszeralchirurgie (Bauchchirurgie) absolvierte. Seit 2002 ist Dr. Deeb Oberarzt der Klinik für Allgemein-, Viszeral u. Thoraxchirurgie im Klinikum Kassel. Seine operativen Tätigkeiten sind neben der Tumorchirurgie die endokrine Chirurgie und die Koloproktologie (Erkrankungen von Dickdarm, Mastdarm und After).

Im Jahr 2008 war Dr. Deeb Mitbegründer einer europaweiten Organisation für palästinensische Ärzte, deren Ziel es ist, palästinensische Mediziner in Europa zu vernetzen, die medizinische Versorgung in Palästina zu verbessern und Mediziner dort auszubilden. Die deutsche Sektion wurde im Juni 2008 gegründet.

Während des Gaza-Krieges war Dr. Deeb mit einem französischen Team als Arzt in Gaza im Einsatz. Er hat elf seiner Familienmitglieder in diesem Krieg verloren. Darunter ein älterer Bruder, eine Tante und neun Neffen und Nichten.

Dr. Muneer Deeb ist verheiratet und hat 2 Kinder.

MM: Sehr geehrter Herr Dr. Muneer Deeb, warum musste Ihr Vater 1948 aus Yavni fliehen?

Dr. Deeb: Mein Großvater lebte mit seinen seinen sechs Kindern als Landwirt im Dorf Yavni im Süden Palästinas. Er besaß neben Orangenplantagen Ackerland, auf dem Getreide angebaut wurde. Wie Sie wissen, verübten zionistische Terrorgruppen 1948 Massaker gegen mehrere palästinensische Dörfer. Wegen veralteter Waffen und fehlender Unterstützung von Außen auf der einen und wegen der damals sehr guten Bewaffnung der Zionisten auf der anderen Seite konnten die Palästinenser ihre Dörfer nicht mehr verteidigen. So waren sie gezwungen, ihre Dörfer zu verlassen in der Hoffnung, bald zurückkehren zu können. Mein Vater, damals zwöf Jahre alt, floh vor der Gewalt mit seiner Familie nach Gaza.

MM: Wie sind Ihre eigenen Kindheitserinnerungen an Palästina?

Dr. Deeb: Ich bin in einem Flüchtlingslager geboren und aufgewachsen. Wir lebten als 16-köpfige Familie in einem von der UNRWA (Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten) errichteten Haus. Ich musste ein Zimmer mit vier meiner Brüder teilen. Damals gab es in Gaza noch viele Orangen- und Olivenplantagen in den umliegenden Dörfern. Als Schüler verbrachten wir viel Zeit dort. Schatten suchten wir an heißen Tagen unter alten riesigen Feigenbäumen. Da es keine Sportplätze gab, spielten wir Fußball oder Volleyball auf der Straße oder sandigen Freiflächen. Schon ab meinem 10. Lebensjahr musste ich nach der Schule meinem Vater im Geschäft helfen. In der Gymnasiumszeit hatten wir sehr schöne Erinnerungen an den Strand des Gaza-Streifens. Der fast leere saubere Strand mit seinem feinen weißen Sand war unser Lieblingsort, um uns auf die Prüfungen vorzubereiten. Abkühlungsbäder boten immer wieder erholsame Pausen. An weitere Teile Palästinas kann ich mich nur durch Schulreisen, die viel zu selten durchgeführt wurden, erinnern. Jerusalem und Hebron zu besuchen war ein ewiger Traum. Auch der Norden mit seiner zauberhaften Natur ist unbeschreiblich.

Leider bleiben auch weniger erfreuliche Erinnerungen im Gedächtnis. Mehrmals stürmten die israelischen Soldaten nachts unser Haus und verschleppten meinen Vater oder meinen älteren Bruder. Wir lebten mit der Angst vor israelischen Soldaten, die einen Stützpunkt im Flüchtlingslager hatten, an dem wir auf dem Weg zur und von der Schule vorbeigehen mussten. Israelische Patrouillen marschierten regelmäßig durch die engen Gassen des Flüchtlingslagers und verbreiteten Angst und Schrecken.

MM: Wie sind Sie dann Arzt in Deutschland geworden?

Dr. Deeb: Nach dem Erlernen der deutschen Sprache am Goethe-Institut und an der Uni Köln studierte ich 13 Semester Humanmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover. Während des Studiums führte ich meine 1. Dissertation im Bereich der experimentellen Chirurgie durch. Mein Studium habe ich durch verschiedene Jobs großteils selbst finanziert. Um die Staatsexamina zu bestehen, mussten wir uns als ausländische Studenten noch viel mehr als unsere deutschen Kollegen anstrengen. So waren die Vorbereitungszeiten deutlich länger und stressiger. Z.T. lernten wir bis zu 15 Stunden am Tag. Trotzdem konnte ich das Studium der Humanmedizin mit der Note "sehr gut" abschließen.

Trotz der guten Note war es damals sehr schwer, eine Stelle zu finden. So nahm ich zunächst eine Stelle als Arzt im Praktikum und später als Assistenzarzt in der Chirurgie in einem kleinen Krankenhaus in der Stadt Damme in Niedersachsen an. Dort haben mein damaliger Chefarzt Dr. Werner Bongarzt und ich die Abteilung wieder aufgebaut. Nur durch harte Arbeit mit bis zu 13 Stunden am Tag war es möglich, eine fundierte chirurgische Ausbildung zu erlangen. Nach vier Jahren habe ich die chirurgischen Standardoperationen beherrscht und konnte sie selbständig durchführen. Zur Erlangung der Fachkunde "Arzt für Chirurgie" musste ich nach Berlin in die Parkklinik Weißensee wechseln.

MM: Wie kam es zu der Idee, palästinensische Mediziner in Europa zu vernetzen, und was ist daraus nach wenigen Monaten geworden?

Dr. Deeb: Wenn man sich die Gesundheitslage der Palästinenser innerhalb und außerhalb Palästinas auf der einen Seite und die große Zahl hochqualifizierter palästinensischer Mediziner in europäischen und anderen Ländern anschaut, stellt man sich die einfache Frage: Was haben diese Mediziner für ihre Landsleute getan? Die Antwort ist sowohl einfach als auch nachvollziehbar: Wenig, viel zu wenig! Eine zweite Frage, die man sich stellen muss, lautet: Wo bleibt der Einfluss palästinensischer Mediziner als Lobby auf die Gesellschaften, in denen sie leben? Ich bin davon überzeugt, dass wir als palästinensische Mediziner in Europa die Fähigkeit und die Möglichkeit dazu besitzen, als einheitliche Lobby unsere Interessen in Europa und die Interessen unseres Volkes wirksam zu vertreten. Nur durch die Bündelung aller Kräfte können wir enorm große positive Energien entfalten, die richtig geplant und gut strukturiert die Gesundheitslage der Palästinenser auf längere Sicht maßgeblich verbessern.

MM: Wie sind die Erfahrungen knapp ein Jahr nach der Gründung der deutschen Sektion?

Dr. Deeb: Der Gründung des Vereins PalMed Deutschland ging eine lange Vorbereitungsphase von gut einem Jahr voraus. Ein siebenköpfiges Ärzteteam und zwei Juristen haben in sorgfältiger Arbeit die Ziele definiert und die Satzung erarbeitet. Es wurden alle Details ausführlich diskutiert und die Konzepte festgelegt. So war der Weg für die Gründung im Juni 2008 geebnet. Jetzt blicken wir auf ein die Erwartungen übertreffendes sehr erfolgreiches Jahr zurück. Manche Skepsis und pessimistischen Prognosen haben sich nicht bestätigt. Unser Einsatz während des "Gaza-Krieges" und danach war durch klare Strategie, strukturierte Arbeit und Durchsetzungsgeist ausgezeichnet. So zeigte unser Konzept gute Wirkung und hohe Effizienz. Das Interesse an unserem Verein wächst Tag für Tag. Die Mitgliederzahlen steigen permanent. Wir planen zusammen mit unseren Partnerorganisationen ein großes Projekt zur Verbesserung der Gesundheitslage in den israelisch besetzten Gebieten. Die vor uns liegenden Herausforderungen sind immens groß. Es ist noch viel zu tun. Wir hoffen, die Aufgaben und gesetzten Ziele in geeigneter Form verwirklichen zu können. Dazu brauchen wir alle mobilisierbaren medizinischen Kräfte.

MM: Sie waren während des Gaza-Krieges in Gaza und haben operiert. Bitte schildern Sie uns Ihre Eindrücke

Dr. Deeb: Das können Sie im Einzelnen meinem Einsatzbericht entnehmen. Er wurde u.a. veröffentlicht auf der Website der Zeitschrift "Der Semit" unter dem Titel: "Ein Chirurg als Augenzeuge während des Gaza-Krieges vom 12.01.2009 bis 20.01.2009".

MM: Die Eindrücke und Bilder, die Sie schildern und zeigen sind ja an Grausamkeit kaum zu überbieten. Wie verkraften die Ärzte diese Anblicke, wenn sie gleichzeitig bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit arbeiten?

Dr. Deeb: Während des Einsatzes im Gaza-Streifen herrschten unvorstellbare Kriegsbedingungen. Wir sahen Tag und Nacht Tote und Verletzte, die manchmal scharenweise eingeliefert wurden. Durch diese Erlebnisse waren wir in einem Ausnahmezustand. Wir hatten keine Zeit, an uns selbst zu denken. Menschenleben zu retten war das einzige, was uns beschäftigt hat. Wir hatten auch keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken, ob wir selbst in Gefahr sind oder nicht. Auch nach unserer Rückkehr hatten wir lange Zeit gebraucht, um unsere Erlebnisse zu verarbeiten.

MM: Haben Sie nach diesen Eindrücken die Hoffnung, dass es jemals ein friedliches Miteinander von Juden, Christen und Muslimen in Palästina geben kann?

Dr. Deeb: Die drei Weltreligionen haben in der Geschichte mehrfach bewiesen, dass sie zusammenleben können. Nur durch Gerechtigkeit kann man einen dauerhaften Frieden erreichen.

MM: In wie weit haben Sie Verständnis dafür, dass deutsche Politiker mit Verweis auf die eigene Geschichte sich nicht trauen, von Israel Gerechtigkeit einzufordern?

Dr. Deeb: Deutsche Politiker haben sicher die Berechtigung und die Pflicht, eine ausgewogene Außenpolitik zu betreiben, ohne deutsche Interessen zu gefährden. Das darf sie aber nicht davon abhalten, gerade wegen der deutschen Vergangenheit und der Nazi-Verbrechen sich für das Recht anderer Völker auf Souveränität und Freiheit einzusetzen. Die deutsche Bundesregierung trägt einen nicht unbeträchtlichen Anteil des internationalen Friedens. Abgesehen von direkter oder indirekter Unterstützung der israelischen Politik. Ich hätte mir gewünscht, dass deutsche Politiker den Mut haben, Opfer von Tätern in der Öffentlichkeit zu unterscheiden.

MM: Was würden Sie ihrem israelischen Berufskollegen sagen, der sich um die Traumata der israelischen Kinder kümmert, die einmal in ihrem Leben den Einschlag einer Katjuscha-Rakete gehört haben, und was möchten Sie dem deutschen Außenminister sagen, der Projekte zur seelischen Heilung solcher israelischer Kinder fördert?

Dr. Deeb: Wir als Ärzte sollten uns, ungeachtet der Nationalität, Hautfarbe, Religion oder ethnischer Herkunft, für die Linderung menschlichen Leidens einsetzen. Wir haben jüdische Kollegen, die sich für palästinensische Opfer einsetzen. Ich erwarte vom Außenminister im Gegenzug eine politische Unterstützung humanitärer Projekte, die wir für das palästinensische Gesundheitssystem planen.

MM: Dr. Deeb, wir danken Ihnen für das Interview.

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