Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Prof. Priddat
 

Muslim-Markt interviewt
Prof. Dr. Birger P. Priddat, Hochschullehrer für Politische Ökonomie
23.4.2010

Prof. Birger P. Priddat (Jahrgang 1950) ist in Leuna (Sachsen-Anhalt) geboren. Die frühe Jugend und Findungsphase war durch ein zunächst abgebrochenes Abitur und abgebrochenes Kunststudium an einer Akademie geprägt, wonach er im Stahlbau und auf einer Werft in Hamburg arbeitete. In 1974 holte er sein Abitur in Uelzen nach und studierte fortan Volkswirtschaftslehre, Philosophie und Arbeitspsychologie an der Universität Hamburg. 1985 folge die Promotion und diverse Assistententätigkeiten. 1991 folgte er einem Ruf auf den Lehrstuhl für Volkswirtschaft und Philosophie an der privaten Universität Witten/Herdecke und war 1995-2000 Dekan der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. 2004 übernahm er den neu gegründeten Lehrstuhl für Politische Ökonomie an der Zeppelin University in Friedrichshafen, wo er auch Head of the Department for Public Management & Governance wurde. Prof. Priddat ist in 2010 zum Fellow im Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik der Theologischen Fakultät der Universität Basel (ZRWP) ernannt worden.

Im August 2007 wurde er Präsident der privaten Universität Witten/Herdecke und ist dort Hochschullehrer für Politische Ökonomie, wobei er weiterhin auch Gastprofessur an der Zeppelin University in Friedrichshafen ist. Im Dezember 2008 trat er als Präsident aufgrund gewisser Missverständnisse zurück. Zu seinen zahllosen Ämtern und Tätigkeiten gehörte auch die Beratung von Bundeskanzler Schröder für die Themenkomplexe Zivilgesellschaft und New Governance.

Priddat ist Herausgeber von vier Schriftenreihen, hat zahlreiche Bücher und wissenschaftliche Publikationen herausgegeben und für seine Tätigkeiten mehrere Ehrungen und Auszeichnungen erhalten.

Priddat ist verheiratet, hat einen Sohn und wohnt im Großraum Witten.

MM: Sehr geehrter Herr Prof. Priddat, in einer jüngsten Forschungsprojekt wollen Sie den "Glaube an das Wirtschaftswachstum als neue Religion" untersuchen. Glauben sie denn nicht an das ewige Wirtschaftswachstum?

Prof. Priddat: Wachstum ergibt sich in modernen, dynamischen und arbeitsteilig ausdifferenzierten Wirtschaften. Nur nehmen die Raten ab; große und alte Wirtschaften wachsen langsamer. Erst neue Technologieschübe ergeben neue Wachstumsplattformen: Hier wird die IT-Entwicklung treiben - und die Klimafrage, die hochwertige Forschungen und Innovationen bringen wird. Wachstum ist keine Ideologie, sondern notwendige Bedingung für das Bevölkerungswachstum. Ansonsten müssten wir weltweit rigorose Geburtenkontrollen einführen. Gerade die nicht-atlantischen Nationen sind deshalb auf Wachstum angewiesen: der (Geburten-)Reichtum an Menschen bedeutet eine erhöhte Verantwortung für ihre Versorgung (und für Umverteilungen der Vermögen und Chancen).

MM: Wie ist es aber mit Bevölkerungen, die nicht mehr wachsen? Wie soll die Lebensmittelindustrie wachsen, wenn es immer weniger Menschen gibt, die etwas verspeisen können?

Prof. Priddat: Diese Industrie wächst entsprechend weniger. Alte Formen verschwinden, neue Märkte entstehen (mit gesünderen Produkten, neuen Geschmäckern etc.). Wachstum ist kein reines Mengenthema, sondern ein Ausdifferenzierungsthema. Gerade wenn man Gesellschaft als gestalt- und entwickelbar ansieht, ergeben sich immer wieder neue Märkte. Und wir forschen und erfinden ja immer wieder Neues.

MM: Und wie ist es in Bereichen, in denen es aus ökologischen oder gesundheitlichen Gründen sinnvoll wäre, wenn es gar kein Wachstum gäbe, wie z.B. bei der Energieversorgung oder der Pharmaindustrie?

Prof. Priddat: Warum sollte es dort kein Wachstum geben? Energie wird neue Erzeugungsformen finden: mehr solar, Erdwärme, Nutzung von Gezeiten, noch mehr Wind, chemische Energien, wahrscheinlich wieder stärker Atomstrom und, wenn der Fusionsreaktor funktionieren wird ... Und wieso soll die Pharmaindustrie nicht wachsen – wenn wir z.B. die genetische Forschung weiterentwickeln. Wir sind ja wissenschaftlich bereits in neuen Räumen der Mikrobiologie, der Neuroscience etc..

MM: Schaut man in die Liste ihrer Veröffentlichungen, wird deutlich, dass das Thema für Sie nicht ganz neu ist. So haben Sie z.B. bereits 1988 über "das Geld und Vernunft" geschrieben. Passen denn das kapitalistische Finanzsystem mit dem zinsbasierten Verschuldungssystem und Vernunft überhaupt zusammen?

Prof. Priddat: Der Kapitalismus ist ein notwendig gekoppeltes Kapital- und Geldwirtschaftsystem. Unternehmen brauchen Kredite für weitere Investitionen. Nicht der Zinsmechanismus ist problematisch, sondern die Spekulation. Es gibt faktisch kaum zinslose Kredite weltweit: Wenn offiziell kein Zins genommen wird, finden sich bei genauerer Untersuchung andere Formen der monetären Kompensation. Niemand gibt Geld als Quasi-Geschenk; gegebenenfalls wird man am Unternehmensertrag beteiligt. Das Finanzsystem hat insofern Vernunft, als es in eine Logik der Investition eingebettet ist. Problematisch wird es, wo Akteure mit Geld, das ihnen nicht gehört, spekulieren, und nicht haften. Die Frage der Haftung bei riskanten Anlagen muss geklärt werden - ökonomisch wie strafrechtlich (vgl. die aktuellen Klagen gegen Goldmann & Sachs). Letzthin sind alle Investitionen riskant - das muss man wissen. Wer glaubt, groß gewinnen zu können, darf nicht enttäuscht sein, wenn er alles verliert. Womöglich ist nachhaltiger Gewinn besser als großer.

MM: Ist es nicht aber ein großer sowohl moralischer als auch ökonomischer Unterschied, ob man sich nach einem Geldverleih verantwortungsbewusst an einem Gewinn beteiligt oder Zinsen verlangt, unabhängig davon, wie die Erträge dessen sind, der die Zinsen zahlen soll?

Prof. Priddat: Die Beteiligung ist ja die riskantere Form für den Verleiher. Weil risiskoreicher, stellt ein solches System insgesamt viel weniger Kapital zur Verfügung, als für eine dynamische Wirtschaft gebraucht wird. Außer man sichert sich gegen Verlust durch Pfand, d.h. bekommt Rechte nicht nur am Gewinn, sondern bereits am vorhandenen Eigentum. Ich halte den Kredit auf Zins nicht von vornherein für unmoralisch. Der Kredit bringt erst die Investitionsdynamik, da nicht nur Gewinn erwirtschaftet werden muss, sondern auch noch der Zins. Da der Kreditgeber nicht beteiligt ist, d.h. nicht mit ins Risiko einsteigt, ist er eher bereit, das Geld zu geben. Das ist meines Erachtens der Erfolgsmechanismus des Kapitalismus, sein Wachstumsgenerator. Würde man den Zins verbieten, könnten wir die Gesellschaften nicht mehr so stark entwickeln, wie es uns heute gelingt.

MM: In vieler Veröffentlichungen wir der Begriff "Ethik" verwendet. Was könnte einen im kapitalistischen Wettbewerb befindlichen Akteur dazu bewegen, ethische Grundsätze zu beachten?

Prof. Priddat: Das ist keine einfache Frage. Ethische Grundsätze sind eher eine Haltung zu den Dingen, die man einhalten will. Es ergeben sich dann Grenzfragen: Soll ich das tun, oder verbietet mir meine Haltung das? Hier gibt es keine generellen Regeln (auch wenn man das bei Fragen der Ethik häufig glaubt). Es beinhaltet auch immer wieder die Reflektion, ob die eigene Haltung auch weiterhin gelten kann. Solch eine Haltung kann sein - Qualität für die Kunden, Anerkennung und Respekt gegenüber den Mitarbeitern, Vorsicht vor hochriskanten Investitionen etc. Man kann nicht immer seine private Haltung in den Vordergrund stellen: Die Organisation/Firma hat womöglich ein eigenes Profil, eine eigene Haltung. Über solche Haltungen bilden sich spezifische Beziehungen heraus, die für die ökonomische Positionierung im Wettbewerb nachhaltig wertvoll sein können.

MM: Bei der Durchsicht Ihrer Publikationen ist uns auch der Titel "Ökonomische Knappheit und moralischer Überschuss" aufgefallen. Liegt in der Westlichen Welt nicht eher genau das Gegenteil vor?

Prof. Priddat: Nein, das wäre ein Missverständnis des Buchtitels. Ökonomische Knappheit ist ein Tatbestand von Wirtschaften. Moralischer Überschuss meint Folgendes: Wir haben Moral - ich halte nichts von der Rede des Wertverfalls - , aber zu viele (der pluralis ist hier wichtig!). Was heißt das? Wir haben vielfältigst ausdifferenzierte Werte, Moralen etc., aber keine 'eine Moral'. Moderne Gesellschaften sind ausdifferenzierte Veranstaltungen, in denen verschiedene Sozialisationen individuell (oder netzwerkweise) verschiedene moralische Habitus entfaltet haben, die gewisse Schnittmengen aufweisen, aber in vielen Fällen auch nicht überlappen. Gerade die deutsche Gesellschaft pflegt mannigfaltige moralische öffentliche Diskurse, aber es gibt wenig Konsens (oder nur vorübergehend). Das muss man als Faktum der Moderne gelten lassen: Wir haben es deshalb eher mit lokalen Moralgleichgewichten zu tun, die dort auch wirksam werden, aber nicht mit übergreifenden Reglungen, Normen etc. (außer im Rechtsbereich). Gesellschaften mit homogenerer Moral haben noch nicht den Ausdifferenzierungsgrad erreicht, um modern zu sein, d.h. sie geben den Individuen weniger Rechte und Selbstbewusstsein als den Gemeinschaften. Das hemmt Initiative, Innovationen und Entwicklung.

In Ihrer Frage klingt an, dass die Westlichen Gesellschaften eher einen nicht-moralischen Weg gehen. Das kann man nur aus einem Blickwinkel nicht-moderner Gesellschaften so sehen: man darf nicht unterschätzen, dass die Westlichen Gesellschaften über die Aufklärung und ihre Folgen eine soziale Emanzipation erreicht haben, die auch die Standards für Moral geändert hat. Man ist Normen und Moralen gegenüber skeptischer geworden, weil man erkannt hatte, dass Normen auch Herrschaftsformen sind. Wer definiert die Norm? In welchem Interesse? In letzter Konsequenz sind daraus die demokratischen Politikverfassungen entstanden, die die Frage, was als Norm gelten soll, letztlich politisch klären. Die Frage der Moral ist letztlich eine der politischen Abstimmung, d.h. faktisch auch der möglichen Änderbarkeit. Moral hat seine eigene politisch-soziale Dynamik bekommen. Es gibt keine tradierten Regeln mehr, weil das hieße, dass die in den Regeln einbeschlossene Ordnung geschichtslos aufrecht erhalten würde. Dann aber hemmen diese Ordnungen die Entwicklung (der Gesellschaft, ihrer Wirtschaft und der Individuen).

MM: Ist es wirklich so einfach? Denn wenn Moral eine Frage der der politischen Abstimmung ist, welches Recht hätte man dann, etwas gegen Hitler zu unternehmen? Wollen Sie wirklich, dass sozusagen die Bild-Zeitung festlegt, welche Moral in Deutschland Gültigkeit hat?

Prof. Priddat: Das ist ja nun wirklich nicht einfach, sondern – im Gegenteil – eine komplexe Angelegenheit. Wer soll sonst die Normen aufstellen als die, für die sie gelten? Alles andere ist Fremdbestimmung. Wie will man legitimieren, dass jemand anderes als die Menschen selber ihre Normen bestimmen können? Das wäre ja ein Ausverkauf des Rechtes auf Selbstbestimmung. Wieso soll eine Gesellschaft wollen können, dass jemand anderes als sie selbst ihre Regeln definiert? Dann würde man sich ja selber aufgeben, schwach werden. Demokratie ist nicht einfach, und hat nicht immer ideale Resultate. Aber es sind die eigenen Resultate, mit denen man sich wieder auseinandersetzen muss. Selbstbestimmung und Freiheit sind hochwertige Menschenrechte, auf deren Basis gesellschaftliche Ordnungen begründet werden sollen.

MM: Bei ihren Betrachtungen schwingt die Überzeugung durch, dass die höhere Wertung des individuellen Wohls gegenüber dem Gemeinwohl Antrieb der modernen Entwicklung sei. Ist solch eine Vorstellung nicht gleichzeitig eine Art Bankrotterklärung des Systems, denn warum sollte sich z.B. irgendein Soldat dann für die Verteidigung eines solchen Gemeinwohls individuell opfern oder irgendwelche Menschen Freiheiten individuell freiwillig aufgeben, um z.B. Kinder zu erziehen oder Eltern zu pflegen?

Prof. Priddat: Es gibt soziale Regeln, die man akzeptiert, weil ihr Ergebnis vernünftig ist. Kooperation ist in vielem vorteilhaft. Es geht nicht darum, das individuelle Wohl egoistisch durchzusetzen; wo Kooperation sinnvoll ist, ist es für die Individuen besser, zu kooperieren. Dafür kann man sich sehr wohl opfern: für die Freiheit, die Formen der Kooperation selber zu bestimmen. Das hieße ja gerade, die Freiheit zu verteidigen. Und natürlich gibt es ein Gemeinwohl: aber nicht unabhängig von den Entscheidungen der Individuen, welches es sein soll und in welchem Maße. Man muss das, was allgemein gelten soll, immer wieder beraten und anpassen. Wir haben ja bei uns geschichtlich sehr große Wohlfahrtssteigerungen erreicht, und soziale Versorgung aller, die es nicht mehr alleine schaffen. Der Sozialstaat ist ja ein Gemeinwohlstaat. Die Form der Gesellschaft, die wir in Deutschland haben, ist eine soziale Form: soziale Marktwirtschaft.

MM: Ihre Analysen richten sich ja nicht nur auf die Seite der so genannte Mächtigen, sondern Sie untersuchen z.B. auch das Konsumverhalten. Haben die Konsumenten denn eine ernsthafte Chance Einfluss auf das Gesamtsystem zu nehmen?

Prof. Priddat: In einem gewissen Sinne ja. Konsumenten können verweigern, bestimmte Produkte zu kaufen. Das kann über medial inszenierte Kampagnen laufen, meist aber über die Kommunikation in Netzwerken. Es ist eine Form eines 'virtuellen Qualitätsmanagements'. Für gewisse Segmente entstehen neue Märkte: z.B. für gesündere oder ökologische Nahrung. Ich glaube, es läuft nicht so sehr über die Verweigerung, sondern über die qualitative Differenzierung, über neue Angebote, die dem Konsumenten klar machen, dass das alte gewohnte Produkt Mängel hat, die er nicht tolerieren muss. Er kauft dann eben das andere. Die Macht der Konsumenten besteht darin, sich neuen Angeboten zuzuwenden. Es geht weniger um Kritik, sondern um Kritik + Alternativen.

MM: Herr Prof. Priddat, wir danken für das Interview.

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