Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Ilya Limberger
 

Muslim-Markt interviewt
Ilya Limberger - Erzpriester an der Sankt-Nikolaus-Kathedrale in Stuttgart
28.6.2014

Erzpriester Ilya Limberger wurde 1963 in Moskau als Sohn eines deutschen Juden geboren. 1977 emigrierte er mit der Familie nach New York. In New York besuchte er die Privatschule der Russischen Kirche. Seit 1983 lebt er in Deutschland. Sein Vater erhielt das Angebot für einen Sender in München zu arbeiten. Ilya Limberger studierte Mathematik und Informatik an der Universität München. Kommilitonen brachten ihn in die russische Kirchengemeinde und später als Gast in ein Männerkloster. Limberger besuchte ein Priesterseminar, unter anderem in Belgrad, wo er auf einer Zugfahrt seine spätere Ehefrau traf. Sie heiratete 1988. 1990 wurde er zum Priester geweiht und an die Sankt-Nikolaus-Kathedrale in Stuttgart berufen. Um seine Familie versorgen zu können musste er als Programmierer in einem Softwarehaus arbeiten, da die Gemeinde damals keinen Vollzeitpriester finanzieren konnte. Erst ab 2002 ist die Kirche sein Vollzeitarbeitgeber.

Ilya Limberger ist der Mitglied des Jugendrates bei der Synode der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland (ROKA). Erzpriester Limberger spricht Russisch, Deutsch, Englisch und Serbisch.

Er ist verheiratet, hat fünf Kinder und lebt im Großraum Stuttgart.

(Foto veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Sankt-Nikolaus-Kathedrale in Stuttgart)

MM: Sehr geehrter Herr Erzpriester Limberger, bitte verzeihen Sie die Anfangsfrage aus Unwissenheit vieler muslimischen Leser, aber was ist ein "Erzpriester" und wie kommt es, dass ein Priester verheiratet sein kann und fünf Kinder hat?

Erzp. Limberger: Nun, ein Erzpriester ist der ranghöchste, meistens der dienstälteste Priester einer orthodox-christlichen Gemeinde. So hat unsere Gemeinde in Stuttgart 4 Priester und ich trage diesen Titel als der dienstälteste unter ihnen. In der orthodoxen Tradition, im Unterschied zur römisch-katholischen, dürfen Priester verheiratet sein. Die meisten Gemeindepriester sind faktisch verheiratet. Natürlich gibt es in der orthodoxen Kirche auch Mönchtum und unter den Mönchen gibt es auch Priester. Diese werden aber in den Klöstern eingesetzt und betreuen selten städtische Gemeinden.

MM: Und wie wird der Sohn eines jüdischen Vaters christlicher Priester?

Erzp. Limberger: Mein Vater war zwar jüdischer Abstammung, aber er übte, da in der Sowjetunion geboren und aufgewachsen, das Judentum nicht aus. Also wurde ich, wie auch die meisten Menschen in der Sowjetunion, religiös-neutral, stellenweise atheistisch erzogen. Erst später, mit etwa 20 und nach zwei Migrationen, habe ich schon weitgehend selbständig meinen Weg zum christlichen Glauben und in die Kirche gefunden. Da dieser Schritt für mich damals sehr wichtig und wohlüberlegt war, folgte darauf eine vertiefende Weiterbeschäftigung mit dem Glauben, Theologie und Frömmigkeit der orthodoxen Kirche, was in die Annahme des Priestertums mündete.

MM: Wir sind auf Sie aufmerksam geworden im Zusammenhang mit dem Engagement Ihrer Kirche gegen die neue Schulgesetzgebung im Bundesland Baden-Württemberg bezüglich Sexualerziehung. Was stört Sie daran?

Erzp. Limberger: Es sind mehrere Überlegungen, die uns veranlasst haben, uns an dieser Diskussion zu beteiligen. Ausführlich sind unsere Bedenken und Vorschläge im - mittlerweile offenen - Brief dargelegt, den wir an Herrn Ministerpräsident Kretschmann und an Herrn Kultusminister Stoch geschrieben haben. Den Brief kann man im Internet einsehen. Ich möchte gerne auch die muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürger aufrufen, sich mit dem Thema auseinander zu setzen und sich gegebenenfalls den Protesten anschließen. Denn das Thema wird sehr bald auch ihre Kinder erreichen.

MM: Worin bestehen ihre Einwände?

Erzp. Limberger: Die Einwände beziehen sich auf die Frühsexualisierung der Kinder durch die Schule, auf die dadurch verletzte Schamgrenze vieler Schüler, auf die staatliche Bevormundung der Eltern in Sachen der Erziehung ihrer eigenen Kinder und der Wertevermittlung, auf die komplette Vernachlässigung der Familie bei Überbetonung der Sexualität in den menschlichen Beziehungen im vorgeschlagenen Bildungsplan, auf die Unfähigkeit der Annahme eines solchen Bildungsplanes durch verschiedene Migrantengruppen, was sich als Hindernis für die Integration erweisen würde. Ergänzend möchte ich noch hinzufügen, das der vorgeschlagene Bildungsplan das allgemeine kulturelle Niveau der Schüler und damit der Gesellschaft abzusenken droht. Wenn dort nämlich davon die Rede ist, die Schülerinnen und Schüler sollten die homo-, trans- und intersexuelle ¨Kultur¨ kennen lernen, dann frage ich mich, wie sich diese in die großartige deutsche und allgemein europäische Kultur von Goethe und Schiller, Bach und Beethoven, Thomas Mann und Rilke, etc. einfügt. Ich bin nämlich der Meinung, dass eine tiefere Beschäftigung mit der klassischen europäischen Kultur vonnöten ist, damit das Kulturniveau der Gesellschaft nicht absenkt.

MM: Überhaupt scheint Einiges in Ihrer Kirche anders zu sein, als in den Mehrheitskirchen in Deutschland. Wie steht Ihre Kirche zum Kopftuch der Frau?

Erzp. Limberger: Es gibt sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zwischen der orthodoxen und der römisch-katholischen bzw. der evangelischen Kirche. Diese betreffen sowohl die Glaubensinhalte, also die Lehre, als auch die verschiedenen kirchlichen Bräuche. Was den Kopftuch betrifft, so haben wir den Brauch, dass eine verheiratete Frau mit einem Kopftuch die Kirche betreten sollte. Dieser Brauch gehört aber beileibe nicht zu dem Kern unseres Glaubens oder unserer Frömmigkeit.

MM: Wie wird Ihre Kirche finanziert, durch Kirchensteuern oder durch Spenden?

Erzp. Limberger: Unsere Kirche wird ausschließlich durch Spenden finanziert. Am System der Kirchensteuer wollen wir nicht teilnehmen.

MM: Was empfinden Sie bei der aktuellen Berichterstattung über Russland?

Erzp. Limberger: Mich stört erstens die Oberflächlichkeit der (massenmedialen) Berichterstattung. Wichtige Zusammenhänge, die der Vielschichtigkeit der gegenwärtigen Lage Rechnung tragen, werden ausgeblendet, so dass ein sehr einseitig negatives Bild Russlands entsteht. Dies ist weder im Interesse der deutschen Bevölkerung noch im Interesse des Landes insgesamt. Dadurch wird dem Problem nicht Rechnung getragen und die Suche nach Lösungen verhindert. Zweitens stört mich die selbstverständliche Einseitigkeit, mit der Russland die alleinige Schuld für die gegenwärtige Lage zugeschoben wird. Auch dies behindert meines Erachtens die Suche nach Lösungen. Es stören mich drittens tendenziöse Etikettierungen. So werden die Aufständischen in der Ostukraine ständig als Separatisten bezeichnet, obwohl sie viel eher Föderalisten sind. Sowohl in ihrem eigenen als auch im russischen Diskurs werden lediglich Forderungen nach Föderalisierung der Ukraine laut, um den Unterschieden in den Gebieten Rechnung zu tragen, und keinesfalls nach der Abtrennung dieser Gebiete von der Ukraine.

MM: Welche Themen dominieren Ihre Gemeindearbeit?

Erzp. Limberger: Die Themen sind sehr vielfältig. Vordergründig ist es das Gebet, der Gottesdienst, der im Zentrum des orthodox-christlichen Lebens steht. Dann kommt die Seelsorge – vertrauliche Gespräche über das Leben, Sinnsuche, Familie und ihre Herausforderungen, etc. Als nächstes kommen die Taufen – etwa 160–170 im Jahr – und die Hochzeiten – etwa 25 im Jahr. Diese erfordern zum Teil eine intensive, mehrstündige Vorbereitung mit den Betroffenen. Natürlich kommen auch die Beerdigungen dazu. Weiter folgt die Jugendarbeit, die aus vielfältigen Aktivitäten, wie Religions- und Sprachunterricht, Ausflügen, Freizeiten, Seminaren, Treffen, etc. besteht. Weiter gibt es Projekte in der Erwachsenen- und, Familienbildung, zur Unterstützung älterer Menschen und vieles andere mehr. Besonders zu erwähnen wäre auch ein Projekt zur Unterstützung schwer kranker Kinder und ihrer Eltern, die aus Russland, Weißrussland und Ukraine nach Stuttgart zur Behandlung kommen. In all dem sind wir auf die großartige und selbstlose Hilfe vieler Ehrenamtlicher angewiesen.

MM: Erlauben Sie uns im Schlussteil noch einen kurzen christlich-muslimischen Dialog. Gemäß der schiitischen Richtung des Islam gibt es keinen Unterschied zwischen Jesus und Gott außer, dass der eine Schöpfer und der andere Geschöpf ist. Aber jeder Atemzug Jesu (und auch Marias) erfolgten im Namen Gottes und jedes Wort von ihm, war Gottes Wort. In wie weit unterscheidet sich diese Vorstellung von der Vorstellung in Ihrer Kirche?

Erzp. Limberger: Auf diese Frage kann ich nur sehr kurz eingehen. Die Unterscheidung – Schöpfer und Schöpfung – ist für uns Christen fundamental. Wir halten den Glauben an den Einen Schöpfer aufrecht, der von Ewigkeit her und außerhalb jeglicher Schöpfung der alleiniger Gott ist in drei Personen – Vater, Sohn (oder auch Wort oder Logos Gottes, wie Er im Johannesevangelium genannt wird) und Heiliger Geist – Eine Gottheit, Ein Wille, Eine Kraft, Eine Liebe. Nicht drei Götter – das sei fern – sondern einziger Gott in drei Personen. Jesus Christus ist für uns der Sohn des Vaters, der Mensch geworden ist. Somit haben wir in Ihm die Brücke zum Vater und erblicken und verehren in Ihm und durch Ihn den Schöpfer der Welten. Auf die einzelnen Begründungen dieses Glaubens auf der Grundlage der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments kann hier nicht eingehen, diese sind aber zahlreich. Es folgt, das sich die von Ihnen genannten Vorstellungen des Islam und unserer Kirche über Jesus Christus so unterscheiden, wie sich die Vorstellungen vom Schöpfer und Geschöpf unterscheiden, das heißt – ziemlich.

MM: Nach muslimischer Vorstellung ist der Mensch erschaffen, um die Liebe Gottes in der höchstmöglichen Stufe zu erlangen. Da die höchstmögliche Stufe der Liebe die Freiheit voraussetzt wurde der Mensch "herabgesandt" (downgegradet), um in der relativen "Entfernung" sich frei für oder gegen Gott entscheide zu können. Das Neugeborene ist aber sündfrei. Viele Muslime haben daher Schwierigkeiten zu verstehen, was Christen mit Erbsünde meinen. Ist es möglicherweise ähnlich zu verstehen wie bei den Muslimen?

Erzp. Limberger:  Ich gehe auf die Frage der „Erbsünde“ aus christlich-orthodoxer Sicht ein. Ihre Überlegungen zur Freiheit sprechen mich auch sehr an, es würde uns aber wahrscheinlich zu weit führen. Wir verstehen unter der Erbsünde den gegenwärtigen menschlichen Zustand der Entfremdung von Gott und Seiner Erkenntnis und Liebe und die Versklavung unter die Umstände der Krankheit, Verwesung und Tod, in die Menschen offensichtlich hinein geboren werden. Die „Erbsünde“ ist keine „Sünde“ im herkömmlichen Sinne der persönlichen Verschuldung – daher finde ich die Bezeichnung eher irreführend, sie kommt auch in der Heiligen Schrift nicht vor, sondern sie ist der Zustand der Fremdheit und Entfernung von Gott. Es folgt, dass Neugeborene und kleine Kinder sündlos sind, und dennoch der „Erbsünde“ verfallen sind, da sie in diesen Zustand hinein geboren werden. Dieser Zustand führt aber den Menschen dann beim Heranwachsen auch zur Sünde im Sinne der persönlichen Verschuldung. Durch die Vereinigung mit Jesus Christus in der Taufe, aber auch sonst im Leben der Kirche, werden Menschen von der Erbsünde befreit, da sie sich in Jesus Christus mit dem wahren und alleinigen Gott vereinigen, die Entfremdung überwinden und die Gotteserkenntnis erlangen können, weshalb sind die Ausführungen zur vorhergehenden Frage so wichtig. Durch das den Menschen geschenkte ewige Leben sind sie auch nicht mehr Sklaven des Todes. Das ganze nennen wir „Erlösung“ und bezeichnen Jesus Christus als den „Erlöser“. Die Erlösung verstehen wir allerdings nicht als einen quasi automatischen von Gott allein ausgehenden Prozess. Sie erfordert hingegen eine umfassende persönliche Antwort des Menschen, der zum intensiven geistlichen Leben aufgerufen wird, durch das er auf allen Ebenen seines Daseins verändert, verklärt und verewigt wird. Hierin wird der Mensch ständig durch den Heiligen Geist geleitet und unterstützt. Die Zeugnisse dieses Prozesses erblicken wir in den Heiligen unserer Kirche.

MM: Sehr geehrter Herr Erzpriester Limberger, wir danken für das Interview.

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