Im Namen des Erhabenen  

  Interview mit Dr. Shir Hever

 

Muslim-Markt interviewt
Dr. Shir Hever, Autor des Buches "Die Politische Ökonomie der israelischen Besatzung"
2.3.2018

Shir Hever, geboren 1978, ist Wirtschaftswissenschaftler und arbeitet für das Alternative Informationszentrum, das in Jerusalem und Beit Sahour tätig ist. Diese 1986 gegründete israelisch-palästinensische Organisation befasst sich wissenschaftlich mit dem Thema soziale Gerechtigkeit in Israel und Palästina. Shir Hever forscht seit vielen Jahren zu den wirtschaftlichen Grundlagen und Folgen der Besatzung mit Schwerpunkt ökonomische Aspekte der israelischen Besatzung in Palästina und der israelische Waffenhandel.

In diesem Rahmen hat er zwei Bücher veröffentlicht: „Die politische Ökonomie der israelischen Besatzung“ (2014), „The Privatization of Israeli Security“ (2017, Pluto Press). Letzteres war seine Dortorarbeit an der Freien Universität Berlin.

Als Journalist arbeitet er für The Real News Network (ein globaler Online-Videonachrichtensender mit Sitz in Baltimore und Toronto).

Dr. Shir hever ist ledig und lebt im Großraum Heidelberg. Er spricht und referiert in einwandfreiem Deutsch, aber auf seinen Wunsch hin hat er bei dem komplexen und diffizilen Thema das Interviews die Antworten auf Englisch gegeben und sie wurden ins Deutsche übertragen.

MM: Sehr geehrter Herr Dr. Hever, sie bezeichnen sich selbst nicht als Zionisten und nicht als Antizionisten, treten aber gleichzeitig für ein gleichberechtigtes Miteinander aller Bürger Palästinas ein, wie passt das zusammen?

Dr. Hever: Ich denke, dass die Diskussion über die Geschichte und Vielfalt des Zionismus interessant ist, aber hier nicht besonders relevant. Vergessen wir nicht, dass der Antizionismus als Bewegung zumeist eine Bewegung ultra-orthodoxer praktizierender Juden ist. Selbstverständlich gibt es auch Antizionisten, die aus anderen Gruppierungen kommen, und ich respektiere ihr Recht, sich selbst als Antizionisten zu beschreiben, selbst wenn sie innerhalb dieser Bewegung eine Minderheit darstellen. Genauso sollten wir nicht vergessen, dass die zionistische Bewegung selbst unterschiedlich ist. Die Mehrheit identifiziert sich mit der rassistischen Politik des Staates Israel, aber es gibt auch Menschen, die gleiche Rechte für Palästinensern anstreben, die die BDS-Bewegung unterstützen, die gegen die Ungerechtigkeiten in Palästina kämpfen und sich Zionisten nennen. Ich respektiere ihr Recht, sich selbst als Zionisten zu bezeichnen, auch wenn sie innerhalb dieser Bewegung eine Minderheit sind. Wegen dieser kleinen Gruppe an Menschen nenne ich mich nicht Antizionist. Es ist wichtiger für mich, für Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit zu kämpfen als für Bezeichnungen.

I think that the discussion of the history and diversity of Zionism is interesting, but not very relevant here. Let’s not forget that anti-Zionism as a movement is mostly a movement of Ultra-Orthorodox observant Jews. Of course, there are also anti-Zionists who come from other groups and I respect their right to define themselves as anti-Zionists, even if they are the minority within this movement. In the same way, let’s not forget that the Zionist movement itself is varied. The majority identifies itself with racist policies of the State of Israel, but there are also people who promote equal rights to Palestinians, who support the BDS movement, who struggle against the injustices in Palestine and call themselves Zionists. I respect their right to define themselves as Zionists even if they are a minority within this movement. Because of this small group of people, I do not call myself an anti-Zionist. It is more important for me to struggle for justice, equality and freedom than it is over labels.

MM: In der Regel befassen sich die Analysen um Palästina mit den Auswirkungen der Besatzung auf die besetzten. Sie haben sich auch mit den Auswirkungen auf den Besatzer befasst. Was ist dabei vor allem zu nennen?

Dr. Hever: Analysten haben gute Gründe, ihr Interesse auf die Opfer der Besetzung zu konzentrieren und nicht auf die Täter. Meine Arbeit zu diesem Thema begann vor etwa 14 Jahren, als nur sehr wenig Material über die Auswirkungen der Besatzung auf Israelis existierte, und es war wichtig für mich, zu dieser Debatte beizutragen, aber darin steckt ist keinesfalls die Behauptung, dass die Wirkung der Besetzung auf Israelis wichtiger oder interessanter wäre als ihre Auswirkung auf Palästinenser.

Analysts are correct to focus their interest on the victims of occupation rather than on the perpetrators. My work on the topic began about 14 years ago, when very little material existed about the effects of the occupation on Israelis, and it was important for me to contribute to this debate, but it is by no means a claim that the effect of the occupation on Israelis is more important or interesting than its effect on Palestinians.

MM: ... aber zweifelsohne gibt es auch diesen Effekt ...

Dr. Hever: Das wichtigste Problem, um die Auswirkungen der Besatzung auf Israelis zu verstehen, ist, dass der Kolonialismus eine Gesellschaft von innen heraus zerreißt. Sie schafft Korruption und Ungleichheit unter den Kolonialisten. Eine kolonialistische Gesellschaft muss Geheimhaltung wahren, diskriminierende Gesetze verabschieden, Kollektivstrafen ausüben und viel Gewalt anwenden, um die Kontrolle über die einheimische Bevölkerung zu sichern. Früher oder später richten sich alle diese Dinge gegen verschiedene Minderheiten innerhalb der Kolonialistengesellschaft selbst und zerreißt sie. Das ist bei jeder kolonialistischen Gesellschaft der jüngeren Geschichte geschehen, und Israel/Palästina ist keine Ausnahme diesbezüglich.

The most important issue to understand about the effect of the occupation on Israelis, is that colonialism tears a society from within. It creates corruption and inequality among the colonizers. A colonial society must use secrets, discriminatory laws, collective punishment and a lot of violence in order to maintain its control over the native population. Sooner or later, all these things are turned against various minority groups within the colonizing society itself, tearing it apart. This happened to every colonial society in modern times, and Israel/Palestine is not an exception.

MM: Wenn die Besatzung sowohl für die Besetzten als auch für die Besatzer negative Auswirkungen hat, welche Kräfte bewirken denn dass die Besatzung aussichtslos weitergeführt wird?

Dr. Hever: Ein weiteres wiederkehrendes Merkmal kolonialistischer Gesellschaften ist ihre politische Lähmung. Politischer Einfluss hängt von Ehre und Status ab, und diese werden dadurch erlangt, dass man beweist, dass man "loyal und patriotisch" ist und den Palästinensern hinreichend feindlich gegenübersteht. Falls ein israelischer Politiker versucht darzulegen (wie es einige getan haben), dass die Besatzung die langfristigen Interessen des Staates Israel schädigt, gilt er als unpatriotisch und verliert sofort seine Popularität.

Another recurring feature of colonial societies is that they become politically paralyzed. Political influence depends on honor and status, and those are gained by proving that one is sufficiently “loyal and patriotic” and sufficiently hostile towards Palestinians. If an Israeli politician tries to point out (as several have) that the occupation harms the long-term interests of the State of Israel, they are deemed non-patriotic and lose their popularity at once.

MM: Gibt es keinen Ausweg für Israel?

Dr. Hever: Es gibt keinen Ausweg aus dieser Falle, und tatsächlich gab es nie eine Kolonialmacht, die ihre Kolonien aus Herzensgüte herausgegeben hat. Immer gibt es einen Kampf und der Kampf ist nie einfach. Es ist der Kampf der Palästinenser, die für ihre eigene Freiheit kämpfen, und die Israelis wollen diesen Kampf nicht verlieren, selbst wenn das "Gewinnen", ihnen mehr Schaden zufügt als Nutzen.

There is no way out of this trap, and indeed there has never been a colonial empire which gave up its colonies out of the kindness of its heart. There is always a struggle, and the struggle is never easy. It is the struggle of the Palestinians who fight for their own freedom, and Israelis do not want to lose this fight, even if “winning” it causes them more harm than good.

MM: Die weltweite Boykottbewegung BDS hat nur einen vergleichsweise geringen ökonomischen Effekt auf die Wirtschaft Israels, warum wird sie dennoch so erbarmungslos bekämpft von Anhängern des Zionismus?

Dr. Hever: Ich stimme der Frage nicht zu, weil es einige Zionisten gibt, die BDS unterstützen! Es sind die israelische Regierung und pro-israelische Gruppen, die gegen BDS kämpfen (und nicht alle sind zionistisch). Sie verstehen, dass BDS sehr effektiv darin ist, die ungleichen Machtverhältnisse zwischen Israelis und Palästinensern aufzudecken. Wenn jemand beim Betreten eines Supermarkts einen BDS-Flyer erhält, wird er, selbst wenn er nicht davon überzeugt ist und ein israelisches Produkt im Supermarkt kauft, sich des Systems der Unterdrückung bewusst werden, unter dem dieses Produkt hergestellt wurde, und wie dieses Geld zur Enteignung der Palästinenser beiträgt. Die Stärke von BDS liegt nicht in seinen wirtschaftlichen Auswirkungen, die, wie Sie sagen, eher gering sind, sondern in seiner aufklärenden Wirkung.

I disagree with the question, because there are some Zionists who support BDS! It is the Israeli government and pro-Israeli groups which are fighting against BDS (and not all of them are Zionist). They understand that BDS is very effective in exposing the unequal power relations between the Israelis and the Palestinians. When someone receives a BDS flyer when entering a supermarket, even if they are not convinced and do choose to buy an Israeli product in the supermarket, they will become aware of the system of oppression under which this product was produced, and how this money contributes to the dispossession of Palestinians. The power of BDS is not in its economic impact, which as you say is rather small, but in its educational impact.

MM: Können Sie sich denn als Bürger Israels vorstellen, dass eines Tages in Israel alle Volksgruppen gleichberechtigt zusammen leben werden und selbst die Vertriebenen zurück können; das würde doch den jüdischen Charakter Israels beenden?

Dr. Hever: Solange die palästinensischen Flüchtlinge selbst das Rückkehrrecht nicht aufgeben, werden sie es nicht verlieren. Ich glaube absolut, dass das, was Sie beschreiben, die Realität in Israel/Palästina sein wird, und wahrscheinlich früher als viele von uns denken. Die israelische Regierung verlässt sich zunehmend allein auf die Waffengewalt, um ihre Kontrolle zu bewahren, und dies ist ein Zeichen der Schwäche, sie hat die Legitimität zu herrschen in den Augen der Palästinenser und auch in den Augen vieler Israelis und ausländischer Regierungen verloren.

As long as the Palestinian refugees themselves do not give up the Right of Return, they will not lose it. I absolutely believe that what you describe will be the reality in Israel/Palestine, and probably sooner than what many of us think. The Israeli government increasingly relies on force of arms alone to maintain its control, and this is a sign of weakness, it has lost the legitimacy to rule in the eyes of the Palestinians, and also in the eyes of many Israelis and foreign governments.

MM: ... und der jüdische Charakter?

Dr. Hever: Was den "jüdischen Charakter" des Staates betrifft, ist dies eine Frage, die genauer definiert werden müsste. Ich denke, dass die Definition eines Staates als "jüdisch" durch seine Apartheidgesetze, die eine Gruppe gegenüber anderen bevorzugen, durch staatlich sanktionierte Diskriminierung und demographische Maßnahmen, um eine jüdische Mehrheit mit Gewalt zu sichern, eine Definition ist, die das Judentum extrem beleidigt. Das Judentum kann ohne Apartheid existieren. Ein Staat, der voll von Synagogen, Museen, Zentren für das Studium jüdischer Texte und Geschichte und voller jüdischer Kultur sein wird, muss nicht von allen diese Dinge geleert werden, um muslimische, christliche und andere Glaubensrichtungen zu feiern und jede Kultur und jeden Religion zu respektieren.

As for the “Jewish character” of the state, this is a matter that has to be defined more precisely. I think that defining a state as “Jewish” through its apartheid laws that privilege one group over others, through state-sanctioned discrimination and demographic policies to try to ensure a Jewish majority by force, is a definition which is extremely offensive to Judaism. Judaism can exist without apartheid. A state which will be full of synagogues, museums, centers for study of Jewish texts and history and full of Jewish culture does not have to be empty of all these things to celebrate Muslim, Christian and other faiths, and to equally respect every culture and every religion.

MM: Warum gibt es so wenige Juden, die solch ein Judentum gegen die rassistische Staatlichkeit verteidigen?

Dr. Hever: Das ist einfach nicht wahr. Jüdische Gruppen und Gemeinschaften aus aller Welt protestieren sehr offensichtlich gegen die israelische Politik. Die am häufigsten verwendete Parole "nicht in unserem Namen", denn als Juden lehnen wir es ab, mit den Verbrechen in Verbindung gebracht zu werden, die der Staat Israel verübt. Es gibt bestimmte Regierungen, wie die deutsche Regierung, die es bevorzugen, sich mit pro-israelischen jüdischen Gruppen zusammenzutun und die Pro-Gerechtigkeits-Gruppen zu ignorieren. Sie zu ignorieren bedeutet aber nicht, dass es sie nicht gäbe oder dass sie klein seien.

This is simply not true. Jewish groups and communities from all over the world protest very openly against the Israeli policy. The most common slogan is “not in our name” because as Jews, we refuse to be associated with the crimes committed by the State of Israel. There are certain governments, such as the German government, which find it more convenient to associate with pro-Israeli Jewish groups and to ignore the pro-justice groups. Ignoring them does not mean that they do not exist, or that they are small.

MM: Was sind ihre nächsten Projekte?

Dr. Hever: Ich untersuche derzeit die Auswirkungen von BDS auf die israelische Wirtschaft und schreibe einige Artikel über die israelische Sicherheitspolitik. Nachdem mein neues Buch "The Privatization of Israeli Security" (Die Privatisierung der israelischen Sicherheit) veröffentlicht wurde, verfolge ich auch weiterhin die Entwicklungen der israelischen Sicherheits- und Rüstungsfirmen und suche einen deutschen Verleger, der mein Buch ins Deutsche übersetzen würde.

I am currently studying the effects of BDS on the Israeli economy, and writing some papers on the Israeli security policies. After my new book was published: the Privatization of Israeli Security, I am still following the developments of Israeli security and arms companies, and am looking for a German publisher who would like to translate my book into German.

MM: Herr Dr. Hever, wir danken für das Interview.

Senden Sie e-Mails mit Fragen oder Kommentaren zu dieser Website an: info@muslim-markt.de 
Copyright © seit 1999 Muslim-Markt